Der Begriff „Gesundheit“ – Eine Übung für ein lebendig erweitertes, vertieftes Begriffs-Verständnis

Im Kurs „Meditation“ praktizierten wir kürzlich eine zur Meditation hinführende Seelenübung1. Das Ergebnis dieser sehr lebendigen und Interesse weckenden Übungspraxis möchte ich hier vorstellen.

Wir wählten für die Übung den Begriff „Gesundheit“ aus. Grundsätzlich könnte jeglicher Begriff auf diese Weise bearbeitet werden.

(1) Das allgemeine Verständnis zum Begriff sammeln

In einem ersten Schritt sammelten wir, wie Gesundheit heute allgemein verstanden wird. Ein kurzer gedanklicher Vergleich mit dem gegenteiligen Begriff „Krankheit“ war unterstützend, um eine weite Auffassung zu gewinnen. Auch war interessant, die etymologische Bedeutung des Begriffes nachzuschlagen. Wir schrieben alles in wenige Worte zusammengefasst auf ein großes Blatt Papier, damit es auch für die Augen gut sichtbar wurde.

(1) Was versteht man allgemein unter dem Begriff?

  • es tut einem nichts weh

  • man fühlt sich wohl und alles im Körper funktioniert normal

  • es gibt keine Diagnose (bio-medizinisches Modell)

  • man hat keine Symptome

  • man hat keine Symptome und braucht auch keine Medikamente

  • etymologisch (althochdeutsch): gesund = gisunt „stark, wohlbehalten, unverletzt, heil“

  • physische und psychische Leistungsfähigkeit

  • Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO)

Wichtig war hierbei, nicht zu bewerten oder zu interpretieren und sich dabei in ermüdende Diskussionen zu verwickeln, sondern das Ziel war es, den Begriff „Gesundheit“ zu charakterisieren und einen möglichst weiten Überblick über das heutige Verständnis zu diesem Wort zu schaffen.

Interessant war, dass in dieser ersten Phase der Übung Teilnehmer Beschreibungen von Gesundheit einbrachten, auf die andere Teilnehmer wieder gar nicht gekommen wären. Auf diese Weise wurde der Begriff der Gesundheit aus festgefahrenen Vorstellungen herausgelöst und im Verständnis erweitert.

(2) Den Begriff weiter und differenzierter charakterisieren

In einem zweiten Schritt gliederten wir unterscheidend auf in ein förderliches, konstruktives Verständnis von Gesundheit und in ein Verständnis, das mit Gefahren oder sogar missbräuchlichen Formen verbunden sein kann.

In dieser Phase der Übung ist es sinnvoll, auch künstlerische Darstellungen oder Charakterisierungen von Gesundheit von verschiedenen Künstlern bzw. Autoren, die sich mit diesem Begriff tiefergehend auseinandersetzten, hinzuzunehmen. Hierbei wurde deutlich, dass ein Wort unterschiedliche Qualitäten besitzt und auf eher oberflächliche oder aber auch auf sehr anspruchsvolle Weise verstanden werden kann.

(2) Positive Formen des Begriffes – Negative Formen des Begriffes

  • kein passiver Gleichgewichtszustand, sondern ein labiles, aktives und sich dynamisch regulierendes Geschehen zwischen den extremen Polen von Krankheit und Gesundheit (gesundheitswissenschaftlich)

  • Zustand, der die körperliche, psychische, soziale Dimension umfasst und die bestmögliche Entwicklung, sowie Umsetzung der jeweiligen Fähigkeiten in diesen Ebenen beinhaltet

  • Zusammenhang von Entwicklung mit Gesundheit: Entwicklung setzt aufbauende Kräfte für die Gesundheit frei, Geisteskraft / Ideenkraft transformiert körperliche Bedingungen

  • Albert Talhoff: „Höchste Gesundheit wird sein, wenn man größtes Vertrauen zu den geistigen Kräften hat, ganz gleich wie sich der Körper befindet.“

  • Nietzsche: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“

  • Heinz Grill: „Die Gesundheit des Menschen wäre sehr einseitig bemessen, wenn sie nur durch das Funktionieren und Gekräftigtsein des physischen Körpers definiert werden würde. Gesund ist wohl jener, der eine Entwicklung förderlich für seine Umgebung und Mitmenschen leistet und mit seinen Aktivitäten tatsächlich die geistigen Dimensionen des Daseins in eine Synthese mit den irdischen Verhältnissen führt.“ (Med. 161 v. 22.10.2022)

  • zwanghaftes gesundes Essen, Sport treiben, etc. für die Gesundheit

  • Gesundheit als Zwang mit bestimmten Maßnahmen vom Staat auferlegt

  • reduziert auf physische Krankheitsstoffe unter Ausschluss von psychischen und sozialen Faktoren

  • aus Angst vor Krankwerden lebt man sein Leben nicht mehr (z.B. wegen extremer Angst vor Ansteckung durch Viren, Bakterien, etc. geht man nicht mehr aus dem Haus, meidet Kontakte)

  • exzessives Ausleben, da man sich wohlfühlt und das für gegeben hält

  • das Nur-noch-Funktionieren in der Arbeit / im Leben und Übertönen von Langeweile mit Medienkonsum und Sensationen ist so verbreitet, dass es als normaler = gesunder Zustand gilt („Normopathie der Gesellschaft“ v. Erich Fromm)

(3) Zum Schöpfer des Begriffes werden

Beim dritten und anspruchsvollsten Schritt geht es darum, regelrecht zum Schöpfer des Begriffes zu werden und den Begriff „Gesundheit“ ganz unabhängig von den bisher gesammelten Beschreibungen als ein möglichst weitgefasstes, höchstes Ideal mit eigenen Worten selbst zu charakterisieren. Jeder hatte nun die Möglichkeit, ein höchstes Idealbild von Gesundheit selbst zu denken und dieses in Worten zu formulieren bzw. niederzuschreiben.

(3) die Erfüllung des Begriffes in seiner größtmöglichen Idealität, Sozialität und Moralität

Beispiel einer Formulierung: „Gesundheit ist ein Zustand, in dem ein Mensch seine Fähigkeiten und Talente auf körperlicher, psychischer, sozialer und seelisch-geistiger Ebene in vollem Umfang entwickelt und im Leben sinnvoll einsetzt. Er ist fähig, mit seinen Mitmenschen so in Beziehung zu treten, dass eine aufbauende und entwicklungsförderliche Sphäre in seinem Umfeld, auch wenn dieses problembehaftet ist, entsteht.“

Erfahrungsgemäß ist dieser dritte Schritt der schwierigste. Auch wenn es nicht sogleich gelingt, eine ausgereifte Beschreibung zu formulieren, so wird es oft ein oder zwei Tage später, wenn man sich nochmals darum bemüht, schon besser möglich sein. Gelingt dieser Schritt, so erschließt sich der tiefere Sinn und der universale Wert des Begriffes, er wird damit zur Meditation.

Fazit zur Übung:

Ein Ergebnis dieser Übung war, dass durch die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit den verschiedenen Charakterisierungen von Gesundheit neue Erkenntnisse hinzukamen und neue Zusammenhänge entdeckt wurden. Der Begriff „Gesundheit“ stand am Ende wesentlich lebendiger und mit einem konkretisierten, erheblich erweiterten und vertieften Verständnis vor uns.

Wir verwenden Worte heute häufig gewohnheitsmäßig und nicht selten oberflächlich. Mit einem vertieften Verständnis zu einem Begriff kann man diesen viel bewusster und flexibler verwenden. Die kommunikativen Fähigkeiten werden dadurch sicherer und stabiler.

Weiterhin entwickelte sich sowohl zu dem Wort „Gesundheit“ eine nähere Beziehung, wie auch zwischen den Teilnehmern eine lebhafte, von Interesse getragene Verbindung. Es war erlebbar, dass die Klärung des Begriffes, seine Konkretisierung und Veranschaulichung und die Erarbeitung seiner Wertigkeit zu einem unmittelbaren Aufbau der Beziehungssphäre führte.

Diese Übung lässt sich ganz natürlich auch in den Alltag integrieren. Man könnte beispielsweise beim Zusammensein mit Freunden in einem Gespräch irgendeinen Begriff herausgreifen und diesen gemeinsam näher zu charakterisieren beginnen … Es dürfte sich ein lebendiger Austausch mit interessanten Perspektiven und zahlreichen neuen Erkenntnissen entwickeln.

Nov. 2022, Rita Egger


1 Diese Seelenübung wurde von Heinz Grill entwickelt und ist in seinem Buch „Übungen für die Seele“ als vierte Seelenübung ausgeführt. Eine Lektüre zur weiteren Vertiefung ist sehr empfehlenswert.